Handbuch
zum Co-Counseln (Co-Counselling)

19 Provokative Technik

Ziel
Man möchte das Verantwortungsgefühl für sich selber herausfordern und herauslocken und seinen Willen zur konstruktiven Veränderung mobilisieren.

Methode mit Vorschlägen des Counselers
Grundlage jeder provozierenden Intervention ist das Bewusstwein, liebevoll angenommen und wertgeschätzt zu sein. Das erst setzt den Klienten in die Lage Provokationen nicht als verletzend und beleidigend zu verstehen, sonder als humorvoll, herausfordernd und unterstützend. Das ist während der gesamten Sitzung in der diese Techniken benutzt werden immer wieder sicherzustellen. Mit einem Auge hält sozusagen der Counseler den zugewandeten liebevollen Kontakt, mit dem anderen Auge fordert er den Klienten lachend heraus.
Provokative Techniken werden beim Co-Counseln nicht im Grundkurs gelernt. Sie können nur angewendet werden, wenn beide, Klient wie Counseler, die Techniken bei anderen Gelegenheiten kennen gelernt haben. Eine weitere Voraussetzung ist ein vom Klienten für die Sitzung gewählter intensiver Kontrakt (siehe oben unter 'Sitzungen’ ' Der Rahmen der Sitzung’) oder der ausdrückliche Wunsch mit provozierenden Techniken zu arbeiten.
Durch die warmen und humorvollen Provokationen des Counselers wird Platz gemacht für neue Möglichkeiten des Klienten, für neue kraftvolle Erfahrungen mit sich selbst. Das immer weitere Bewegen innerhalb der negativen und sich selbst herunter machenden Verhaltensmuster des Klienten wird so gestoppt. Lacht der Klient, hat er eine Distanz zu seinem Problem hergestellt. Verliert der Klient für eine Zeit die Orientierung innerhalb seines Problems, besteht eine bessere Möglichkeit für etwas Neues.
Es gibt eine große Fülle von Provokationen, welche solche negativen Denk- und Verhaltensmuster auflaufen lassen. Einige Beispiele seien hier genannt:

  Der Counseler versteht das Problem des Klienten nicht und sieht die ganze Angelegenheit notorisch positiv.
Der Counseler kann z.B. immer wieder fragen: 'Was ist das Problem?’ oder 'Was ist falsch daran?’ Er beschreibt dem Klienten die vielfältigen Vorteile seines gestörten Verhaltens und ermutigt ihn: 'Mach so etwas häufiger! Denk häufiger daran! Komm immer wieder auf diese Gefühle zurück!’ Der Counseler begründet all diese Vorteile durch jede Art verrückter Beweise und nennt dazu begeistert aktuelle Forschungsergebnisse. Irgendwann wird der Klient selbst lachen und das Problem in einem anderen Licht sehen können, als vor dem Lachen.

  Der Counseler bagatellisiert das Problem des Klienten.
Er sagt z.B. 'Dein Problem ist weit verbreitet. Dein Problem ist häufig anzutreffen, jeder zweite Mensch hat das!’

  Der Counseler vergrößert das Problem des Klienten.
Der Counseler antizipiert die Katastrophenängste des Klienten Z.B. kann er sagen: 'Das was du jetzt durchmachst, ist gar nichts! Warte erst einmal wenn die Symptome größer werden! Oder der Counseler schnappt geschockt nach Luft: 'Was hast du gemacht!’

  Der Counseler macht dem Klienten völlig abwegige Vorschläge zu dessen Problemlösung.
Der Counseler bietet ihm völlig unmögliche und idiotische Problemlösungen an. Sehr schnell wird der Klient dadurch beginnen selbst wirkungsvolle Lösungen für sich zu finden.

  Der Counseler fordert vom Klienten ihn interessant zu unterhalten. Er zeigt offen dass ihn die Geschichten des Klienten langweilen.
Er unterdrückt auch sein Gähnen nicht, im Gegenteil. Er sagt z.B. 'Ist dieses Problem nicht selbst für dich tödlich langweilig?’ oder: 'Du glaubst gar nicht, wie müde ich werde, wenn ich mir diesen Scheiß die ganze Zeit anhöre, gibt es eigentlich gar nichts Interessantes in deinem Leben?’

  Der Counseler imitiert die verbalen und nonverbalen Verhaltensmuster des Klienten und während er ihn nachahmt übertreibt er diese Verhaltensmuster mehr und mehr.
Z.B. wird er bei einem intellektualisierenden Klienten selbst abstrakter und abstrakter werden und zunehmend schwieriger zu verstehen sein. Bei einem ängstlichen Klienten entsprechend zunehmend (unpassende) 'Angst’ zeigen und sich im möglicherweise beginnenden Wettlauf, wer sich sorgenvoller und mit mehr Befürchtungen erklären kann, nicht so schnell geschlagen geben. Was der Counseler selbst mit z.B. einem 'Die Sorgen, die du dir um dich selbst machst, sind doch ganz klein, gemessen daran welche ich mir um dich mache!’ kommentieren kann.

  Der Counseler geht penetrant nicht auf den Inhalt des vom Klienten gesagten ein, sondern kommentiert fortlaufend verbal und nonverbal dessen Art zu kommunizieren.
Wenn z.B. der Klient mit leiser Stimme darüber spricht, wie er seine Kinder anschreit, äußert der Counseler albern und mit kaum hörbarer noch leiserer Stimme – an ein imaginiertes, nicht anwesendes Publikum gerichtet - seinen Unglauben darüber, dass dieser sanfte und immer freundliche Mensch überhaupt jemals laut rufen oder Schreien könne. Z.B. kann er dem fiktivem Publikum zuflüstern: 'Glaubt hier jemand, dieser Mann hat schon einmal in seinem Leben geschrieen ’

  Wenn der Klient ein Thema offensichtlich schnell wieder verlassen möchte, nimmt der Counseler diese Signale notorisch nicht wahr und macht durch großes Interesse, eifriges Fragen und vielfältige Ideen das Thema immer weiter voller Begeisterung zum Mittelpunkt der Sitzung.
Alle vom Thema weg gerichteten nonverbalen Signale des Klienten werden nicht bemerkt, falsch interpretiert oder übergangen. Wie ein offensichtlich völlig unsensibler Gesprächspartner, der sich völlig selbstbezogen in etwas hinein reitet, mit dem Unterschied jedoch, das es sich irgendwann auflöst und der Klient vielleicht lachend ruft: 'Ja, ich wolle überhaupt nicht darüber reden, aber wo wir nun schon mal so weit sind, will ich noch sagen ...!’ und vielleicht aus dieser Distanz heraus selbst erleichtert darüber, dass das Thema auf dem Tisch liegt, weiterredet.

  Der Counseler zeigt dem Klienten überdeutlich die Wirkung seines Verhaltens auf Andere.
Ist der Klient z.B. aggressiv und laut, zeigt der Counseler seine Angst: 'Das schüchtert mich jetzt völlig ein, da traue ich mich kaum noch etwas zu dir zusagen.’ (Oder nonverbal: Der Counseler wird einfach stumm und zieht demonstrativ den Kopf zwischen den Schultern ein.) Ist in einem anderen Fall der Klient z.B. verführerisch, zeigt der Counseler, dass er von der Attraktivität des Klienten überwältigt ist: ' Du siehst so gut aus, das lenkt mich völlig von allem ab was du redest. Ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren, wenn du so die Beine übereinander schlägst.’

  Der Counseler missinterpretiert die Stärken und Schwächen des Klienten in grotesker Weise.
Ist der Klient ängstlich, lobt der Counseler z.B. diese Ängstlichkeit überschwänglich: 'Deine Ängstlichkeit gibt dir so eine souveräne Gelassenheit und lässt dich so selbstsicher erscheinen, das ist ganz wunderbar. Also was willst du noch, was hast du eigentlich gegen dieses bisschen Angst?’ Berichtet der Klient vom Erfolg bei einer Prüfung, sagt der Counseler vielleicht: ,So ein Pech aber auch, die ganze Zeit hattest du ein Ziel vor Augen, das hat dir Orientierung gegeben. Du hattest Angst zu versagen, das hat dir Kraft zu Arbeiten gegeben, das alles ist jetzt spurlos verschwunden. Ex und hop. Wie willst du jetzt eigentlich weiterleben?’

  Der Counseler gibt dem Klienten für alles und jedes die Schuld.
Er gibt dem Klienten albern für alles was passiert ist die Verantwortung. Zu jedem, dass erzählt wird, kann der Counseler sagen: 'Daran bist du schuld:’ oder 'Das ist doch ganz klar! Dafür trägst du die Verantwortung, wer sonst!?’

  Der Counseler zieht den Klienten nacheinander in völlig verschiedene Richtungen.
Zuerst erklärt der Counseler dem Klienten, das die Ursachen für seine Katastrophe bei anderen Menschen und bei äußeren Umständen liegen. Auch wenn ihm das noch nicht klar ist, sollte er danach suchen. Dann, wenn der Klient beginnt, diesen 'Tatsachen’ zuzustimmen, erklärt der Counseler ihn selbst als allein schuldig und verantwortlich an seiner desolaten Situation. Der Counseler lässt sozusagen den Ball in jede Richtung springen.

  Der Counseler macht keine Anstrengungen den Klienten irgendwo zu helfen und zu unterstützen.
Der Counseler macht Bemerkungen zu völlig nebensächlichem, schweift beim Reden selbst zu anderen Randthemen ab, oder wandert beim Erzählen in surrealistische Traumlandschaften.

Beachte
Die Existenz des eingangs beschriebenen liebevollen Kontakts ist notwendige Bedingung für provokative Techniken. Ohne die immer spürbare liebevolle wertschätzende Verbindung zwischen Counseler und Klient mobilisiert diese Technik nicht die eigenen Kräfte, sondern wirkt verletzend. Je sicherer sich der Klient der die aktuellen Wertschätzung durch den Counseler ist, desto freier und provozierender kann der Counseler agieren. Den Spaß, den der Counseler dabei selber hat, ist eine phantastische Möglichkeit für ihn mit viel Kraft und Ideenreichtum zu agieren. Die Interventionen des Counselers sind nicht bloß gespieltes Theater, sondern er folgt einer Facette seiner Person, der er sonst aus Gründen des Anstands oder der Etikette nur in ganz wenigen Situationen Raum geben kann. Ohne einen vereinbarten intensiven Kontrakt und/oder eine Vereinbarung, diese Techniken zu benutzen, haben provokative Techniken keinen Platz in Co-Counsel-Sitzungen. Provokative Techniken sind nicht mit konfrontativen Techniken zu verwechseln. Sie sollen keine Wahrheiten erzählen, sondern Situationen grell beleuchten helfen, den Klienten herausfordern und ihm so Impulse geben sich in Bewegung zu setzen. Sie fordern den spontanen, energischen Widerstand des Klienten heraus gegenüber letztendlich seiner eigenen Situation mit der er unzufrieden ist.
Provozierende Interventionen ist nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Konfrontieren mit Wahrheiten. Der Counseler ist mit Witz und sehr viel Authentizität wahrhaftig darin den Klienten so anzustoßen, dass sich dieser einen Raum schafft, in welchem er aus dem gekannten (und oft gekonnten) Kreisen um ein Problem heraustreten kann.

Hintergrund
" Je nun, eine gute Verwirrung ist mehr wert, als eine schlechte Ordnung." (Ludwig Tieck 1773 – 1853, Dichter der Frühromantik) Fortsetzen könnte man den Satz mit: 'In diesem Sinn ist es [...] wichtig, offen zu bleiben für eine 'gute Verwirrung’. Das heißt, offen zu sein für Entwicklungen, die bestehenden Verhältnisse und Muster durcheinander bringen’ (R. Hanusch, evangelischer Theologe). Jedes Problem des Klienten hat seine Struktur im Denken und Handeln. In diese Struktur wird der Counseler sehr leicht mit hineingezogen, wodurch er einen Teil seiner unterstützenden Präsenz verlieren kann. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Sagt der Klient 'Niemand mag mich!’ Wenn der Counseler jetzt durch viel Zugewandtheit in der Stimme den Klienten aufzuheitern und ihm vom Gegenteil zu überzeugen versucht, hat er sich schon in das System des Klienten hineinbegeben und kann eigentlich keine davon wegführenden Impuls mehr geben. Genauso wird der Counseler Teil des Problems des Klienten, wenn er als Co-Counsel-Technik in solch einer Situation vielleicht 'Wertschätzen’ vorschlägt. Stattdessen stelle man sich nur die mobilisierende Wirkung einer der folgenden Sätze vor: 'Eigentlich hast du damit noch nicht wirklich gesagt wie die Situation ist. Es ist nicht nur so, dass dich keiner mag, alle verabscheuen dich. Sie meiden dich. Sie wechseln die Straßenseite, wenn sie dich von weitem Sehen, in Geschäften geben die Verkäufer vor, gerade was anderes zu tun zu haben, nur damit sie dich nicht bedienen müssen, sogar bei Aldi stellt die Kassiererin immer genau vor deiner Nase das Schild 'Bitte hier nicht mehr anstellen!’ auf das Laufband!’. Oder anders: 'Das geht eigentlich fast jedem so! Niemand wird gemocht. Deshalb wird strengen sich ja alle so an gemocht zu werden. Sie kaufen sich immer neue Kleider und Parfums und Autos. Weil es eben allen so geht. Ohne das würde die ganze Wirtschaft nicht funktionieren, wären 2/3 der Friseure arbeitslos. Also das ist was ganz Normales. Das Problem ist nun kaum der Rede wert und völlig uninteressant.’

Provokative Therapie (Frank Farrelly, Jeffrey Wijnberg u.a.) ist eigentlich keine Therapieform, sondern eher eine bestimmte (provozierende) Art der Kommunikation zwischen Therapeut und Klient. Mit Humor wird der Widerspruchsgeist und die Eigenständigkeit des Klienten von Beginn an geweckt und entwickelt. Provokative Therapie fördert das spielerische Element in der therapeutischen Situation. Grundthese für die Begründung dieser Kommunikation ist: Menschen können ihre Probleme benutzen, um Vorteile davon zu haben, z.B. um Kontrolle über Mitmenschen und Situationen auszuüben, sich intensiv zu fühlen (in Problemen zu suhlen) oder einfach immer auf eine einfache Art und Weise beschäftigt zu sein. Sie haben diese Probleme - oder tun zumindest nichts dafür, diese zu ändern - also auch, weil sie sich dafür entschieden habe. Diese Entscheidung gegen eine Problemlösung soll durch die provokative Therapie ins Wanken gebracht werden, indem der Klient Zugang zu einem viel lebendigeren Bereich seiner selbst erhält. Er wird in diesem Sinne eigentlich nicht irgendwo hin geschoben, sondern der Ort des Problems, an dem er sich wohnlich eingerichtet hat, wird einladend gestaltet und sozusagen zusätzlich mit Blümchentapete ausgeschmückt und hell ausgeleuchtet ('Das ist ein tolles Problem! Viele würden dich darum beneiden, von so etwas Interessantem erzählen zu können. Das solltest du nicht aufgeben. Etwas Besseres kannst du vielleicht in deinem ganzen Leben nicht bekommen.’) Ziel ist, den Klienten dadurch die ’Fliehkräfte’ aus der Situation erleben zu lassen und ihn dadurch auch mit seiner eigenen Entscheidung zu konfrontieren ’Ich selbst habe mich auch für das Fortbestehen des Problems entschieden, ich selbst kann mich ebenso anders entscheiden’.

 

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